Schwert und Schild weiß schon Monate vor Release die Massen zu spalten und selbst jahrzehntelange Fans in ihrer Meinung zu erschüttern. Doch was genau ist passiert? Ein Kommentar.
Der “Dexit” kommt
Die beiden neuen Pokémon-Editionen Schwert und Schild machten bereits im Vorfeld des offiziellen Releases groß von sich reden. Nicht nur, dass die beiden neuen Spiele die ersten Editionen der Hauptreihe sind, die für eine Nintendo-Heimkonsole entwickelt wurden und somit eine Reihe neuer Features spendiert bekommen, auch soll die neu angekündigte Pokémon Generation erstmals massive Einschnitte mit sich bringen. So kündigte Producer Junichi Masuda bereits Monate vor Veröffentlichung an, dass nicht alle der mittlerweile 800 plus Pokémon ihren Weg ins Spiel finden werden. Ein absolutes Novum und für viele Spieler gleichsam ein ungeheures Ärgernis, wird es Sammlern doch zukünftig nicht mehr möglich sein, den unter Spielern populären Nationalen Pokédex zu vervollständigen.
Kein Wunder also, dass viele Fans direkt mit großer Frustration und Enttäuschung reagierten, nicht gerade wenige drohten sogar mit dem vollständigen Boykott des Spiels und kritisierten die Designentscheidungen aufs schärfste.
Ein frischer Leak auf Resetera, der vermeintlich konkrete Informationen zu den ausgeschlossenen Pokémon hergab, entfachte die Diskussion vor wenigen Tagen dann erneut. Ihm zufolge sollen über die Hälfte der Pokémon aus den Generationen 1-7 entfernt werden. Der eigens dafür kreierte Hashtag „Dexit“ trendette auf Twitter innerhalb weniger Stunden weltweit.
Nintendo selber nahm die Kritik offenkundig zwar an, äußerte sich aber noch sehr verhalten zum Thema. Man begründete diese einschneidenden Maßnahmen vor allem mit dem Entwicklungsaufwand, den eben solche Unmengen an Pokémon bedeuten würden. Rein aus Sicht des Balancing wäre dies für die Herrschaften bei Game Freak eine Mammutaufgabe, die zu Lasten von neuen, innovativen Gameplay-Mechaniken ginge. Man habe sich bewusst dazu entschieden, neue Spielelemente in den Fokus der Arbeiten zu stellen und diese priorisiert zu behandeln.
Gut gedacht, schlecht umgesetzt
Trotz der massiven Kritik und der immer lauter werdenden Gegenstimmen, sollten wir uns zunächst einmal folgendes eingestehen: Nintendos Entschluss ausgewählte Pokémon gar nicht erst ins Spiel zu integrieren, ist sicherlich nicht das Ergebnis von Ignoranz oder mangelndem Interesse. Vielmehr scheint es ein mutiger sowie naheliegender Schritt zu sein, der immer größer werdenden Masse an Pokémon Herr zu werden. Verwerflich ist diese Herangehensweise keineswegs, zeugt sie doch in erster Linie sogar von Qualitätsbewusstsein. Trotz des vielleicht noch nachvollziehbaren Grundgedankens stößt Nintendos Lösungsansatz auf immense Gegenwehr. Was genau lief also schief?
Die Idee, die Nintendo verfolgt, ist – seien wir mal ehrlich – ein erster richtiger Schritt, um das Pokémon-Franchise nicht durch immer mehr Taschenmonster zu verwässern und vielleicht sogar im Kern zu vergiften. Immer größere Entwickleraufwände für Sprites, Animationen und nicht zuletzt für das Balancing benötigen zugleich steigende Ressourcen sowie Kapazitäten und blähen das Spielgefüge weiter auf. Damit hat Nintendo wohl nicht ganz unrecht.
Demgegenüber stehen aber auch der immense Erfolg des Franchise, die riesige Fangemeinde und natürlich die parallel dazu stetig anwachsende Rechenleistung der neuen Hardware. Game Freaks Maßnahmen wirken in diesem Kontext drastisch, übereilt und grenzen für viele verständlicherweise erst einmal an Dreistigkeit. Der populäre Leitspruch „Schnapp sie dir alle“ (eng. Gotta Catch ‚Em All) wird in diesem Kontext fast schon ad absurdum geführt und wirkt hoch selbstironisch.
Volle Fahrt voraus
Seien wir Mal ehrlich: GameFreak lediglich Faulheit, Profitgier und Gleichgültigkeit vorzuwerfen, erscheint erstmal abseits von jedweder Realität – blickt man doch einmal auf die vielen (liebevollen) Meisterwerke zurück, die das Unternehmen in den letzten Jahren erschaffen hat. Was das Studio sich schon eher hat zu Schulden kommen lassen, sind wohl falsch gesetzte Prioritäten und mangelnde Kommunikation. Es scheint, man habe schlicht nicht nah genug an der Community gearbeitet und diese falsch eingeschätzt. Das Ergebnis sind überzogene Redaktionen von gekränkten Menschen, die sich nicht gehört und in dieser Folge hintergangen fühlen.
Als diejenigen Jäger und Sammler, zu denen uns Pokémon seit Generation 1 mit Videospielumsetzungen, Animeversoftungen und Unmengen an Lizenzartikeln erzogen hat, empfinden es doch gerade wir alteingesessenen Fans als inneres Bedürfnis unseren Pokedex zu vervollständigen. Und das betrifft doch ganz besonders die ersten 150 Taschenmonster, die uns über Jahrzehnte hinweg begleitet haben und die durch Ableger wie dem Mobile-Spiel Go sowie die Switch-Umsetzung Lets Go unlängst zurück in unser Gedächtnis gerufen wurden.
Schwert und Schild um über 50 Prozent der bestehenden Pokémon zu erleichtern, ist sicherlich ein Schmerzthema für sich, aber ausgerechnet die beliebten Generationen 1-3 gleich mit wegzurationalisieren, dürfte viele Spieler ergänzend dazu schmerzlichst vor den Kopf stoßen.
Fanlieblinge wie Abra, Knogga, Dragoran, die vielen Starter- und legendären Pokémon sind die Leidtragenden dieser Selektion, während wir ehrlicherweise auf Randgruppen wie das Sakophag-Pokémon Echnatoll oder die Eistüte Gelatini hätten verzichten können. Das mag zwar eine rein subjektive Meinung sein, großangelegte Beliebtheitsumfragen wie beispielsweise die des Reddit-Users Mamamia1001 spiegeln im großen und ganzen aber ein ganz ähnliches Bild wieder. Demnach sind allem voran Pokémon der ersten Generationen in der allgemeinen Meinung beliebter als Pokémon späterer Spielteile. Die ersten drei Generationen konnten in der oben genannten Umfrage weit mehr als die Hälfte der Stimmen für sich ergattern, während Generation 6 und 7 angesichts dessen fast schon leer ausgingen. Wirft man nun einen Blick auf die Pokémonfamilien, die es nach diesem Ranking überhaupt ins neue Spiel geschafft haben, wird man schnell ernüchternd feststellen, dass Nintendo augenscheinlich völlig willkürlich zahlreiche Schnitte allein in den Top 10 vorgenommen hat. Schlussendlich zeigt sich doch ein klares Bild: Die ohnehin schon begrenzte Auswahl an Pokemon lässt noch zu viele Wünsche offen.
Ein weiteres, nicht minder wichtiges Versäumnis ist sicherlich Game Freaks ausbleibende Reaktion auf den sich mit Pauken und Trompeten angekündigten Shitstorm. Statt spätestens jetzt in direkte Abstimmung mit den Fans zu treten und deeskalierend einzuwirken, bleibt man lieber standhaft bei seinen PR-Floskeln.
Kompromisslösung oder Einsicht? Fehlanzeige! Scharf formuliert, sieht man lieber dem auf den Tornado zufahrenden Schiff beim Sinken zu, als vorher nochmal die Kursrichtung anzupassen. So macht es zumindest fatalerweise den Eindruck. Dabei könnten doch schon kleinere Zugeständnisse den Sturm etwas abschwächen.
Wie auch immer man sich entschieden hätte, Nintendo hätte die Kontroverse vermutlich nie ganz verhindern, aber sicherlich dessen Ausmaß mildern können. Am Ende ist Transparenz und eine gute Kommunikation im Umgang mit einer alteingesessenen Community sicherlich das Mittel der Wahl, um auch sensible Themen nachhaltig angehen zu können. So tief der Schmerz bei den meisten Spielern jetzt vielleicht auch sitzen mag, auch an Nintendo wird dieses Thema nicht spurlos vorbeigegangen sein. Wenngleich man für Pokémon Schwert und Schild keine Kompromisslösung mehr finden wird, so bleibt doch noch die Aussicht auf die kommenden Projekte des japanischen Entwicklers, die womöglich die Fehler seines Vorgängers ausbessern werden.
Unter dem Hastag #ThankyouGameFreak lässt sich zumindest schon jetzt ein erster Positivtrend erkennen, der dem Studio in diesem hitzigen Zeiten etwas Zuspruch schenken soll und auf die wundervolle Arbeit der vergangenen Jahre aufmerksam macht. In diesem Sinne: Thank you Game Freak!