Mit dem Erscheinen von Life is Strange im Jahr 2015 folgten zwei entscheidende Dinge: Das Entwicklerstudio Dontnod konnte sich endlich beweisen – und seine zuvor ungewisse Zukunft sichern. Gleichzeitig feierten narrativ-fokussierte Spiele ein eindrucksvolles Comeback. Nach mehreren Titeln verschiedener Studios im ähnlichen Stil sowie weiteren Ablegern der Life is Strange-Reihe meldet sich nun Dontnods Montreal-Studio mit einem neuen Abenteuer zurück: einem 90er-Jahre-Stand by Me-Erlebnis in Spielform. Warum Lost Records: Bloom & Rage das vielleicht beste Spiel in der Geschichte des Unternehmens ist, erfahrt ihr hier.
Stand by me
In Lost Records: Bloom & Rage schlüpft ihr ins Jahr 1995 und in die Rolle von Swann Holloway – einer schüchternen, zurückhaltenden Teenagerin ohne großen Freundeskreis. Den Großteil ihrer Zeit verbringt Swann mit ihrem größten Hobby: der Videografie. Mit einem tragbaren Tape-Videorekorder hält sie ihre Umgebung fest – Tiere, Landschaften, Alltagsszenen – und arbeitet damit an ihren ganz persönlichen Memoiren.
Swanns Eltern, mit denen sie eine typisch komplizierte Eltern-Teenager-Beziehung pflegt, planen, Ende des Sommers 1995 nach Kanada zu ziehen und Velvet Cove in Michigan hinter sich zu lassen. Doch bevor Swann bereit ist, ihren Heimatort zu verlassen, trifft sie drei Mädchen, die nicht nur ihren Sommer, sondern ihr ganzes Leben für immer verändern werden.

Doch das ist nur eine Facette von Lost Records. Das Spiel beginnt im Jahr 2022, als Swann nach 27 Jahren (Stephen King-Fans horchen auf) auf Wunsch einer ihrer damaligen Freundinnen in ihren Heimatort zurückkehrt. Ihr Treffpunkt: Die Blue Spruce Bar im Zentrum des Ortes. Gemeinsam versuchen die Freundinnen herauszufinden, warum sie fast 30 Jahre keinen Kontakt mehr hatten und was im Sommer 1995 in Velvet Cove geschehen ist.
Normalerweise wäre nun die kurze Zusammenfassung der Geschichte beendet und ein Test von mir würde mit dem Gameplay, also dem, was die meisten Spiele ausmacht, fortfahren. Nur ist Lost Records: Bloom & Rage eben nicht diese Art von Videospiel. Es zielt nicht darauf ab, Gameplay-Innovationen zu bieten – ganz im Gegenteil. Der Fokus liegt zu 100 % auf der Erzählung.
Kamera ab!
Dennoch besitzt das Spiel ein zentrales Gameplay-Element, das bereits der Titel des Spiels verrät. Wie bereits erwähnt, hält Swann mit ihrem Camcorder alles fest, was um sie herum passiert. So dokumentiert sie auch ihren Sommer mit den drei neuen Freundinnen. Spieler*innen können immer wieder – und manchmal müssen sie auch – verschiedene Szenen mit dem Videorekorder aufnehmen, um Informationen zu sammeln oder Clips zu erstellen. Der Camcorder verfügt zudem über eine Taschenlampe, die abseits ihrer primären Funktion als Lichtquelle auch in anderen Situationen von Nutzen ist.

Einzigartig daran ist, dass alle Aufnahmen, die ihr selbst macht, unverändert bestehen bleiben und jederzeit abrufbar sind. Wenn ihr also den 90er-MTV-Zoom-in, Zoom-out-Look mögt, werden eure Ergebnisse am Ende genau so aussehen. Nichts von dem, was aufgenommen wird, ist vorgerendert. Das Gameplay-Element mag dennoch nicht für jeden etwas sein. Für mich, der hauptberuflich in der Fernsehbranche arbeitet, hat dieses Element aber einen besonderen Platz in meinem Herzen gewonnen.
Das Spielprinzip wiederholt sich oft: Ihr bewegt euch durch kleinere, offene Areale, untersucht zahlreiche Gegenstände, kommentiert sie und filmt verschiedene Objekte. Zwischendurch gibt es kleinere Rätsel, die eher wie Suchaufgaben wirken, als echte Puzzle. Wer hier komplexes Gameplay erwartet, könnte enttäuscht werden – vielleicht auch durch die eigenen Erwartungen.
Worte, eine Superkraft?
Abgesehen davon ist die größte Gameplay-Komponente des Spiels das Treffen von Entscheidungen. Wie in vielen narrative-driven Spielen muss man auch in Lost Records: Bloom & Rage immer wieder Entscheidungen treffen, die den weiteren Verlauf der Handlung beeinflussen können. Besonders hierbei ist, dass es nie einfache A-B-Dialoge gibt. Man antwortet nicht nur auf gestellte Fragen, wenn es gerade passt, sondern hat immer die Wahl, das Gegenüber zu unterbrechen, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen oder einfach die Klappe zu halten – was, wie auch im echten Leben, hier und da von Vorteil sein kann.

Mit diesen Entscheidungen beeinflusst man nicht nur den Ausgang verschiedener Situationen, sondern auch die Beziehung zu den drei besten Freundinnen: Autumn, Kat und Nora. Auch im „Jetzt“, also in der Blue Spruce Bar, dreht sich vieles um Dialoge und das gemeinsame Erinnern an die Vergangenheit.
Und hier kommt der Punkt, an dem dieser Test eine Kehrtwende zur Geschichte macht. Ich werde keine großen Punkte der Handlung vorwegnehmen, aber lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass Lost Records: Bloom & Rage eine der besten narrativen Erfahrungen in der Geschichte des Genres bietet.
Die Magie der Klischees
Wer Coming-of-Age-Abenteuer aus den 80ern und 90ern wie Stand by Me, Die Goonies oder Now and Then liebt, sollte diesen Text jetzt sofort beiseitelegen und das Spiel direkt herunterladen. Denn genau diese Art von Erlebnis rekreiert Lost Records meisterhaft – besser als es viele andere Werke in diesem Genre tun. Und auch diejenigen, die eine Punk- oder Grunge-Zeit erlebt haben oder einfach eine rebellische Jugend führten, werden sich hier genauso wiederfinden.

Charakterbindung gilt als eine der höchsten Kunstformen im Schreiben. Umso erstaunlicher ist es, dass sich Swann, Kat, Autumn und besonders Nora nach nur wenigen Stunden wie ein echter Freundeskreis anfühlen – in einer scheinbar sorglosen Welt, die einem zu Füßen liegt. Lost Records spielt mit Klischees, keine Frage, doch genau dieses „Punk’s not Dead“-Mindset – die Welt gehört uns – ruft eine tiefe Sehnsucht hervor und lässt mich tief in meine Jugendtage blicken und an verlorene Freundschaften denken. Es fühlt sich an, als wäre plötzlich alles in Ordnung und drumherum kann einem niemand mehr etwas anhaben. Dass ein Videospiel dieses Gefühl in mir weckt, hätte ich für beinahe unmöglich gehalten.
Diese Freundesgruppe wirkt so perfekt, so harmonisch, als wäre sie aus einem Guss. Und dennoch hat jede von ihnen einzigartige Charakterzüge. Swann, die zurückhaltende, die wie ein Schmetterling immer mehr aus ihrem Kokon zu schlüpfen scheint. Nora, die Rebellische, die nichts mehr will, als ein Rockstar zu werden und vor nichts Angst zu haben scheint und dennoch ihre andere Seite nie versteckt. Autumn, die als Teil ihrer Punkband und Skaterin ebenfalls alternativ lebt, aber eher zur Vorsicht neigt, wenn es brenzlig wird. Und schließlich Kat, das manchmal mysteriöse, oft ebenfalls rebellische Mädchen, das die Gruppe wie Kleister zusammenhält.

Sie sind Teenager, sie fühlen wie Teenager und sind in ihrer Rolle beinahe perfekt geschrieben. Alle Spieler*innen werden mindestens eine Situation finden, mit der sie sich identifizieren können. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, treffen selbstverständlich oft vermeintlich dumme Entscheidungen und begehen auch mal Illegales. Doch ist das alles nebensächlich, weil das Jetzt für sie entscheidend ist. Als Spieler*in fühlt man sich wie der fünfte Teil der Freundesgruppe und erlebt ein Sommerabenteuer, das buchstäblich Arschtritte verteilt.
See you in hell!
Lost Records: Bloom & Rage wurde in zwei Episoden im Abstand von knapp zwei Monaten veröffentlicht, die „Tape 1“ und „Tape 2“ heißen. Ich habe beide Tapes am Stück gespielt. Während am Ende von Tape 1 die Augen feucht wurden, gab es in Tape 2 mehrere Momente, in denen die Tränen flossen. Wer nah am Wasser gebaut ist, sollte hier besser vorsorglich mehrere Packungen Taschentücher bereithalten.
Auch inszenatorisch hat Lost Records: Bloom & Rage einiges zu bieten. Visuell beeindruckt es mit einem atemberaubend schönen Artstyle und toll gestalteten Umgebungen. Was Dontnod wie kein anderes Studio versteht, ist die emotionale Kraft der Musik. Immer wieder laufen stimmige Songs im Hintergrund, die die verschiedenen Situationen emotional aufladen. Oft setzt man sich einfach nur mit Swann hin, lauscht der Musik und genießt die toll inszenierten Kamerafahrten. Auch die englische Synchronisation und die schauspielerische Leistung sind herausragend und tragen maßgeblich dazu bei, dass die Charaktere so lebendig wirken. Manchmal passen leider die Lippenbewergungen nicht ganz zur Synchronisation. Zudem gibt es kleinere Fehler in den deutschen Untertiteln.

Abschließend lässt sich sagen, dass Lost Records: Bloom & Rage einen neuen Meilenstein im Bereich der narrative-driven Spiele setzt und bewusst auf Gameplay-Innovation verzichtet. Es ist eine authentische, liebevolle und nostalgische Teenager-Geschichte mit vielen Höhen und Tiefen, mit der sich sowohl Teenager als auch Erwachsene mehr als nur gut identifizieren können – und die einen manchmal auch ertappen lässt. Das Jahr hat zwar noch einige Asse im Ärmel, schließlich haben wir erst April, aber Lost Records wird definitiv schon jetzt als eines meiner liebsten Spiele aller Zeiten in meine ganz persönlichen Memoiren eingehen.
Artikelbilder: ©DONTNOD