Laut und vor allem verzweifelt war der Ruf der Pokémon-Fans nach einem modernen Open-World-Spiel – mindestens ebenso lang mussten sich Spieler*innen dann aber gedulden, bis Entwickler Game Freak diesem Verlangen endlich nachkam. Nach den eher mäßig beliebten Remakes des letzten Jahres und den zaghaften Versuchen mit Schwert sowie Schild neue Mechaniken zu etablieren, wagt Pokémon Legenden endlich das, was schon viel zu lange überfällig war: Arceus setzt erstmals auf eine halboffene Spielwelt mit freilaufenden Kreaturen und schmeißt das altbekannte Konzept maßgeblich über Bord. Warum sich Fans der Taschenmonster dieses Spektakel auf keinen Fall entgehen lassen dürfen, verraten wir euch in unserer Review!
Isekai meets Pokemon
Ernsthaft, was mussten sich Pokémon-Fans in den letzten Jahren in Geduld üben? Anstrengende Random Encounter, gewöhnungsbedürftige Kopffüssler-Looks und separate Kampfbildschirme erinnerten eher an Spiele von anno dazumal als an moderne Iterationen eines populären Rollenspiel-Franchise. Pokémon Legenden: Arceus soll nun jedoch vieles anders machen und das angestaubte Konzept endlich sinnvoll auf die nächste Evolutionsstufe befördern, geschichtlich springen wir dazu aber erstmal einen ganzen Schritt zurück, denn Arceus spielt in einem längst vergangenen Zeitalter. Jahrhunderte vor den Geschehnissen der eigentlichen Hauptteile finden wir uns erneut in der sogenannten Hisui-Region wieder, aus der sich später das aus Perl und Diamand bekannte Sinnoh formen sollte. Ohne technologischen Fortschritt und ohne großes Wissen über Pokémon leben die Menschen hier vor allem auf Abstand zu den Taschenmonstern. Große Städte gibt es ebenso wenig wie Arenen oder Trainer – Pokémon sind für die Siedler eine omnipräsente Gefahr, die man nicht kontrollieren kann. Zu allem Überfluss hat sich inmitten der Region ein weiteres mysteriöses Phänomen offenbart: Über dem Kraterberg klafft ein riesiger Riss im Raum-Zeit-Gefüge, der Mensch und Pokémon gleichermaßen bedroht. In bester Isekai-Manier gelangt euer Alter Ego also plötzlich durch eben jenes schwarze Loch in die Hisui-Region und muss sich als Trainer unserer Zeit mit den Gegebenheiten eines anderen Jahrhunderts auseinander setzen. Schon kurz nach eurer Ankunft tretet ihr dem Forschungstrupp der Galaktik-Expedition bei und werdet mit der Aufgabe betraut, sämtlichen Pokémon zu begegnen.
Die Geschichte von Pokémon Legenden ist vielleicht zu keiner Zeit wahnsinnig ausgefallen oder gar besonders überraschend inszeniert, die vielen kreativen Möglichkeiten, die sich daraus für das Spielgeschehen ergeben, lassen uns aber getrost darüber hinwegschauen. Pokémon Legenden bietet uns ein spannendes und frisches Setting, das sich nicht hätte weiter von den bisherigen Teilen entfernen können. Während Pokébälle beispielsweise aussehen als wären sie aus Holz geschnitzt, ist euer Pokédex fortan mehr ein Notizbuch als ein elektronisches Gadget, fortschrittliche Einrichtungen wie Pokémon Center gibt es schon gar nicht und Item-Shops werden nun durch reisende Händler abgebildet. Ob nun Charakterdesigns, Kleidungsstile oder euer Equipment: Alles fühlt sich frisch, ungewohnt und interessant an – Ein Umstand, den Pokémon-Fans wahrlich lange nicht in diesem Ausmaß erleben durften.
Die nächste Evolutionsstufe
Pokémon Legenden: Arceus entführt uns folglich in eine noch völlig unverbrauchte Spielwelt, die es nun zu erschließen gilt. Startpunkt ist jedoch zunächst Jubeldorf – eine menschliche Siedlung, die euch zugleich als Hub-Welt dient und von der aus ihr die fünf offenen Hauptareale bereisen könnt. Da es in der Hisui-Region abseits von kleinen Lagern keine weiteren großen Städte gibt, werdet ihr in Jubeldorf auch einen Großteil eurer Zeit verbringen, mit Questgebern plaudern oder einfach eure Ausrüstung neu sortieren. Neben den gängigen Items könnt ihr dort natürlich auch wieder Kleidung shoppen oder eure Frisur beim hiesigen Friseur auf Vordermann bringen lassen. Gänzlich neu hingegen ist die Werkbank, an der ihr eure eigenen Pokebälle, Tränke oder anderweitige Konsumgüter aus gefundenen Materialien selbst herstellen könnt – eine nette Ergänzung zum gängigen Item-Shop, die das Erkunden der Spielwelt gleich nochmal um einiges lohnender macht. Habt ihr euch dann einmal vollumfänglich ausgestattet, geht es auch schon auf in die Wildnis. Jedes der fünf verfügbaren Gebiete ist nicht nur überraschend weitläufig, sondern kann mit abwechslungsreichen Biomen, unterschiedlichsten Pokémonarten sowie einer eigenen Questreihe aufwarten, an dessen Ende ihr sogar einen besonders starken Pokémon-Herrscher legen müsst.
Spieleschmiede Game Freak versucht dabei zwar die grundlegenden Mechaniken der Pokémon-Hauptserie beizubehalten, nimmt sich aber ansonsten allerlei Freiheiten raus, um das Gameplay gehörig auf Links zu drehen. Angefangen bei neuen Angriffen über neue Fortbewegungsformen bis hin zu kniffligen Bosskämpfen – die Liste der Neuerungen ist damit in etwa so lang wie der Hals eines Alola-Kokoweis (kleiner Pokemon-Gag!). Aber der Reihe nach – Pokémon Legenden: Arceus legt seinen Fokus weit mehr aufs Erkunden als es noch seine direkten Vorgänger getan haben und erweist dem ‚Gotta Catch ’Em All‘-Prinzip damit einen großen Dienst. So dürfen wir uns zuallererst von den unliebsamen Zufallskämpfen verabschieden. Wilde Pokémon verstecken sich nämlich keineswegs mehr im hohen Gras, sondern laufen stets sichtbar auf der Map herum, was gerade die Jagd nach seltenen Shinys deutlich angenehmer gestaltet. Auch der dedizierte Kampfbildschirm hat in Pokémon Legenden endlich ausgedient. Seht ihr ein interessantes Pokémon könnt ihr jederzeit einen Fangversuch starten und einen Pokéball auf die Kreatur werfen, ohne es vorab in einen direkten Kampf verwickeln zu müssen. Ob der Fangversuch gelingt, hängt aber nicht nur von der Stärke des jeweiligen Pokémon ab, sondern auch von seiner Wesensart. Während ein Hopplo beispielsweise extremst scheu ist und bei eurem Anblick adhoc die Flucht ergreift, greift euch ein Shinux unvermittelt an.
Geht ihr umsichtig vor und pirscht euch lautlos an euer Ziel heran, steigen die Chancen für euren Erfolg folglich drastisch. Gadgets wie Rauchkugeln, Schlammbomben oder Beruhigungs-Leckerlis können da eine nützliche Hilfe sein, sofern ihr denn überhaupt welche dabeihabt. Die euch zur Verfügung stehenden Inventarplätze sind nämlich gerade zu Beginn eures Abenteuers rar gesät und auch später nur gegen teuer Geld Slot für Slot erweiterbar. Da ist das Upgraden eures Rucksacks mindestens genauso mühsam wie das ständige Aussortieren eures Inventars. Glücklicherweise gibt es in jedem Gebiet mehrere Basislager, zu denen ihr schon kurz nach eurer Ankunft schnellreisen könnt. Das Tauschen, Heilen oder Ausstatten eurer Taschenmonster geht damit rasch und ohne größere Verzögerungen von der Hand.
Der Trainer wird zum Kämpfer
Hin und wieder kommt ihr allerdings nicht umhin einem wilden Pokémon in einem Kampf gegenüberzutreten. Hier greift dann wieder das klassische, rundenbasierte Kampfsystem: Abwechselnd darf ein jeder Kampfteilnehmer eine seiner vier Attacken wählen und sie dem Gegner ins Gesicht schleudern. Das Besondere daran: Nahezu jeder Angriff kann neuerdings auch in einer Kraft- oder Tempo-Variante eingesetzt werden. Das sorgt nochmal für eine gehörige Portion Taktik und ist ganz nebenbei eine nette optische Spielerei. Während Kraftangriffe zwar deutlich mehr Schaden bei eurem Gegenüber verursachen, lassen sie sich aber auch deutlich seltener einsetzen. Tempo-Attacken können wiederum mehrfach in einer Runde zum Einsatz kommen, machen dafür aber auch weitaus weniger Schaden. Die Zugreihenfolge könnt ihr dabei jederzeit bequem im oberen rechten Bildschirmrand einsehen und entsprechend eurer Auswahl beeinflussen. Dass die Kämpfe nun direkt in der offenen Spielwelt stattfinden und praktisch nahtlos mit dieser verschmelzen, gibt uns ein herrliches Gefühl der Freiheit, birgt aber leider auch bisweilen einige Tücken. So kommt es nicht selten vor, dass besonders kleine Monsterchen von großen Umgebungsdetails verdeckt werden und kaum sichtbar sind oder ihr plötzlich ungünstig im Angriffsradius einer Attacke steht und eine ordentliche Breitseite kassiert.
In Pokémon Legenden ist eure Spielfigur nämlich nicht mehr nur ein passiver Statist, der Pokebälle spazieren trägt, sondern ein durchaus ernstzunehmendes Teammitglied, das bisweilen selbst in Kämpfe eingreifen kann. Das kommt insbesondere in den opulent inszenierten Bosskämpfen zum Tragen, die am Ende eines jeden Gebietes auf euch warten. Hier gilt es meist ein in Rage geratenes Herrscher-Pokémon mit Opfergaben zu besänftigen. Dafür schickt ihr aber nicht etwa eure Begleiter ins Rennen, sondern müsst höchstpersönlich in einer vordefinierten Arena möglichst viele Treffer landen. Je nach Bossgegner sind dann unterschiedliche Taktiken und Ausweichmanöver erforderlich, um im Kampf nicht direkt zu Boden zu gehen. Diese Auseinandersetzungen sind nicht nur eine willkommene Abwechslung zum alltäglichen Pokémon-Sammelwahn, sondern fallen sogar herrlich herausfordernd aus. Generell scheint Game Freak den Schwierigkeitsgrad leicht angezogen zu haben – den Bildschirmtod bekommen erfahrene Trainer aber dennoch tendenziell eher selten zu Gesicht. Selbst gegenüber Pokémon-Neulingen zeigt sich der Titel meist noch überaus verzeihend. Zwar gibt es noch immer einen EP-Teiler für euer gesamtes Team (den ihr einmal mehr nicht deaktivieren könnt), dafür ist die Anzahl an obligatorischen Kämpfen auf ein Minimum geschrumpft. Mit anderen Worten: Geht ihr nicht aktiv in Kämpfe mit wilden Pokémon, wird euer Team vermutlich schnell unterhalb der empfohlenen Levelgrenze rutschen. Hinzukommen eine Reihe an asymmetrischen Gefechten, bei denen – wie sollte es auch anders sein – häufig genug ihr den Kürzeren zieht und in Unterzahl hochgelevelten Pokémon gegenübersteht. Ganz besonders hier ist der richtige Einsatz von Kraft- und Tempo-Attacken entscheidend, um siegreich aus dem Getümmel hervorzugehen.
Pokeball flieg und sieg!
Auch abseits der Kampagne bietet Pokémon Legenden: Arceus eine Reihe an Nebenaktivitäten und Sidequests, in die ihr massig Zeit investieren könnt. Sowohl Dorfbewohner:innen als auch das Anschlagbrett in Jubeldorf haben spezielle Aufgaben parat, die sie reichlich mit Items oder neuen Anleitungen vergüten. Außerdem versorgt euch der neue Professor der Region mit unzähligen Forschungsaufträgen, mit deren Hilfe ihr die Pokédex-Einträge erst vervollständigen könnt. Dabei geht es meist um recht unkreative und repetitive Aufgaben a la ‚Fangt 10 Exemplare dieser Art‘, ‚Besiegt jenes Pokémon mit einer Attacke vom Typ Geist‘ oder ‚Lasst euch beim Fangversuch nicht entdecken‘. Und dennoch fallen die Forschungsaufgaben in ihrer Gänze herrlich motivierend aus, nicht zuletzt, weil sie stets mit wertvollen Erfahrungspunkten belohnt werden und in ihrer Komplexität doch herrlich simpel bleiben.
Generell handelt es sich bei sämtlichen Nebenaktivitäten vorwiegend um uninspirierte Fetch-Quests, diese zielen jedoch alle auf ein und dasselbe Ziel ein: Euch zu motivieren neue und seltene Pokémon zu finden. Pokémon Legenden gibt euch tatsächlich das Gefühl, dass sich an jeder Ecke unerforschte Geheimnisse noch und nöcher verbergen. Kehrt ihr beispielsweise zu einer anderen Tages- oder Nachtzeit an einen Ort zurück, warten dort bereits gänzlich andere Kreaturen. Ergänzt wird dieses Spektakel von Wetterphänomenen oder zeitlich begrenzten Weltevents, an denen ihr dann nochmal ganz anderen Arten gegenübertreten könnt. Den Großteil eurer Spielzeit verbringt ihr folglich immer auf der Suche nach dem nächsten großen Fang: Ihr kundschaftet die Gegend aus, beobachtet Pokemon, experimentiert mit Items und versucht so viele Tierchen wie nur irgend möglich in eure Pokebälle einzuschließen.
Im Verlauf der Kampagne schaltet ihr dazu natürlich wieder einige Fortbewegungsmittel frei, durch die immer wieder neue Bereiche zugänglich werden. Diese Reittiere erinnern an die altbekannten ‚VM-Techniken‘ und machen das Backtracking in bereits besuchte Gebiete besonders attraktiv. Völlig frei und ohne vordefinierte Schienen könnt ihr durch die Pokémonwelt schwimmen, klettern oder sogar fliegen – und allein, das ist ein so aufregendes Gefühl von Freiheit, das wir so noch in keinem Pokémon-Spiel erfahren durften. Generell orientiert sich Pokémon Legenden: Arceus häufig am Zelda-Blockbuster Breath of the Wild, wenngleich man natürlich nie an dessen Brillanz heranreicht. Das macht sich spätestens dann bemerkbar, wenn man einen genaueren Blick auf die Spielwelt wirft: Bäume, Büsche und Kisten wirken lieblos und unmotiviert in der Umgebung platziert, während Interaktionsmöglichkeiten oder der Wiedererkennungswert der Welt zu wünschen übriglassen.
Hier zählen dann wohl die inneren Werte
So innovativ Pokémon Legenden gameplaytechnisch auch voranschreitet, so rückständig ist man leider auf technischer Seite. Gerade optisch sieht der Titel bisweilen aus als hätte man ihn direkt von einer Nintendo Wii abgefilmt. Die leistungsschwache Switch muss die offenen Areale natürlich auch im Handheld-Modus stemmen können, gravierende Einbußen in Sachen Grafik sind also vorprogrammiert. Während die Hub-Welt größtenteils noch detailverliebt und farbenfroh daherkommt, hat es die eigentlichen Spielgebiete weit weniger gut getroffen. Matschige und flackernde Texturen sind ebenso an der Tagesordnung wie das Flimmern von Umrissenen, das besonders in dunklen Arealen merklich aufstößt. Die kaum zeitgemäße Auflösung stört im Handheld-Modus hingegen kaum, viel eher haben uns die geringe Weitsicht und die ständig aufploppenden Elemente geärgert, die beispielsweise das Auskundschaften aus der Luft fast unmöglich machen.